Geboren am 20. März 1930 in Mülheim/Ruhr, sie lebt in Hamburg-Eimsbüttel.
Schauspielerin und Schlagersängerin, die auf St. Pauli aufwuchs.
„Wenn ich auch nicht gewollt war, ich wollte mich.“
Das Fazit von Marie Nejar, nachdem sie als Erwachsene erfahren hatte, dass ihre leibliche Mutter sie heimlich in Mülheim zur Welt brachte, um sie danach zur Adoption freizugeben.
Mit zwei Jahren kam Mia, wie die Kleine genannt wurde, nach St. Pauli. Dass sie „anders“ war, wurde ihr bewusst, als sie an Großmutters Hand den Spielplatz am Millerntor aufsuchte. Mütter warnten ihre Kinder: „Guck mal, das Mädchen da, siehst du, wie schwarz und schmutzig es ist? Es hat sich nicht gewaschen!“ Manchmal wurden sie noch deutlicher: „Wenn du weiter so ungezogen bist, dann wirst du bald auch so ausschauen.“
Doch für die Kinder war die dunklere Hautfarbe bald kein Problem mehr. Mia schloss Freundschaften. Kindheit und Jugend in der Nazi-Zeit überlebte sie – dank der resoluten und strengen Großmutter. Und dank vieler Menschen, die menschlich handelten. Ein Arzt, die Lehrerin Fräulein Hoffmann und die Polizisten der Davidwache gehörten dazu. Der jüdische Hausarzt, Dr. Blumenthal, sorgte dafür, dass das an Scharlach erkrankte Kind nicht ins Krankenhaus kam. Dort wäre Mia wahrscheinlich zwangsweise sterilisiert worden. Dr. Blumenthal besuchte die kleine Patientin zweimal täglich. Irgendwann war er einfach fort.
In Nazi-Deutschland wurden viele Afrodeutsche zwangssterilisiert. Fast allen wurde die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Mia musste früh die Schule verlassen und Zwangsarbeit leisten. Sie erinnert sich: „[…] für Schwarze [war] es in dieser Zeit leichter, wenn sie auf dem Kiez lebten, als in anderen Hamburger Stadtteilen. Seit jeher wohnten in der Hafengegend Menschen vieler Nationalitäten zusammen, um die sich keiner wirklich scherte, solange sie sich integrierten. […] Viele Menschen hatten eine differenzierte Haltung zu Hitler und seinem Regime.“
Zur Mutter gelang nie eine Beziehung. Mia wusste nicht einmal, wo die wohnte – sie sah ihr Foto in Schaukästen, darunter stand: „Cécile, die berühmte und gefeierte Musikerin.“ In der Tat war sie eine gut ausgebildete Geigerin. Da auch sie einen schwarzen Vater hatte, blieb für sie damals nur das Tingeln in Unterhaltungs-Schuppen auf St. Pauli. Die Großmutter stammte aus einer großbürgerlichen Hamburger Familie, von der sie verstoßen wurde, als sie sich in einen Mann aus Martinique verliebte. In Riga betrieb sie mit ihm eine Kneipe, bis er einem rassistischen Mord zum Opfer fiel. Die Großmutter ließ sich in Hamburg-St. Pauli nieder, sie arbeitete in Bars, machte Näharbeiten (auch für Prostituierte) und ermöglichte der Tochter eine gute Ausbildung. Im „Colibri“ in der Großen Freiheit lernte Cécile 1929 den Kapitänsteward Albert Yessow aus Ghana kennen. Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht wollte er sie wiedersehen, doch sie wies ihn danach immer ab. 1941 starb die Mutter mit nur 31 Jahren nach einer missglückten Abtreibung – kein Krankenhaus wollte sie aufnehmen.
Das vielleicht Erstaunlichste an der Lebensgeschichte von Maria Nejar sind ihre beiden Karrieren als Schauspielerin in der Nazi-Zeit und als Sängerin in den 1950er Jahren. Sie gab das süße exotische Kind – auch als sie schon fast 30 war. Nejar durfte 1943 in dem aufwendigen Ausstattungsfilm „Münchhausen“ mit Hans Albers mitspielen. Am Set lernte sie andere Schwarze kennen, die übrigens teilweise schwarz nachgeschminkt wurden. Ihren Nachkriegs-Künstler:innennamen Leila Negra hat sie sich nicht ausgesucht. 1958 begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ihre erste Ausbildung – etwas wie ein eigenes Leben begann für sie.
Links und Literaturangaben:
Marie Nejars Erinnerungen:
Marie Nejar, Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist – Meine Jugend im Dritten Reich, Aufgeschrieben von Regina Carstensen, Reinbek bei Hamburg 2007 (Rowohlt Taschenbuch)
*Bildquelle: Ebru Durupinar Photography aus dem Buch "Marie Nejar, Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist – Meine Jugend im Dritten Reich" Aufgeschrieben von Regina Carstensen
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