Sylvin Rubinstein (Dolores, Imperio, Donna), geboren 1914 bei Moskau, gestorben am 30. April 2011 in Hamburg, Tänzer und Tänzerin, Widerstandskämpfer, Untergrundkämpfer.
„Wenn ich habe getanzt, ich habe gehabt mein Schwesterlein immer dabei.“
Mit diesem Zitat endet die Biographie des überlebenden Zwillings Sylvin Rubinstein von Kuno Kruse.
Gäbe es einen Spielfilm über sein Leben – mensch würde die Story als unglaubwürdig, konstruiert und sicher auch als zu grausam kritisieren. Sylvin und seine Zwillingsschwester Maria wurden in der Nähe von Moskau im Jahre 1914 geboren. (Die Papiere nennen ebenso präzis wie falsch den 10. Juni 1917 als Geburtstag und als Geburtsort Budapest.)
Die Eltern waren nicht verheiratet. Die Mutter war Tänzerin aus jüdischer Familie, der Vater ein adliger Offizier der zaristischen Armee. Er wurde während der Oktoberrevolution erschossen. Die Geschwister wuchsen mehrsprachig mit Mutter und Großmutter in Brody auf, ehemals österreichisch-ungarisch, dann polnisch. In der heute ukrainischen Kleinstadt Brody lebten damals Menschen vieler Religionen und Ethnien – mehrheitlich Jüd:innen, doch auch Katholik:innen, orthodoxe Christ:innen, Armenier:innen, Pol:innen, Russ:innen, Ukrainer:innen, Österreicher:innen und Deutsche. Brody war eine blühende und wohlhabende Stadt in Galizien. Dass es Galizien bzw. Galicien zweimal auf der Karte Europas gibt, nämlich in der Ukraine und im Norden Spaniens, sollte für die tanzenden Zwillinge noch von einiger Bedeutung sein.
Mit zehn Jahren wurden die Kinder zur Ausbildung bei Madame Litwinova nach Riga geschickt. Sieben Jahre dauerte die harte Tanzschule bei der einstigen Solistin des Bolschoi-Balletts. Sie versicherte den Kindern: „Euch werden die Bretter der Welt gehören!“
Doch es wurde nicht der klassische Tanz, dem die begabten Geschwister huldigensollten. Sie traten in europäischen Varietés u. A. in Warschau, Athen, Istanbul, sogar am Broadway auf. Und immer wieder in Berlin. In Hamburg gastierten sie im legendären „Alkazar“, von den Nazis später in „Allotria“ umbenannt.
Sie tanzten Samba, Rumba und Stepptanz. Doch die größte Begeisterung lösten sie mit ihrem „galizischen Flamenco“ aus: „Die Amerikaner haben geschmissen silberne Feuerzeuge vor die Füße und Blumen in Vasen.“ So erinnerte sich Sylvin Rubinstein an die 1920er und frühen 1930er Jahre in Berlin, als der Autor und Journalist Kuno Kruse ihn Ende der 1990er Jahre in seiner kleinen Wohnung in der Wohlwillstraße interviewte. Eine Stadt und eine Epoche im Tanzfieber. Die Zwillinge nähten alle Kostüme selbst, sie waren immer hochelegant gekleidet. Auf der Bühne leisteten sie jeden Abend körperliche Schwerstarbeit. Sylvin erwies sich auch als geschickter Taschendieb und Schwarzmarkthändler, was ihm noch oft das Leben rettensollte. Je nach Bedarf der Veranstalter tanzte er auch mit Perücke und in Kleidern. Das erotische Interesse von Männern hat ihn jedoch immer unangenehm berührt.
Auf dem Bahnhof von Warschau sah er 1942 seine geliebte Schwester das letzte Mal, sie sollte die Mutter aus Brody holen. Sylvin suchte den Rest seines Lebens nach ihr. Nach dem Krieg schlüpfte er in ihre Rolle. Aus dem Warschauer Ghetto waren beide noch gemeinsam geflohen. Er kämpfte im Untergrund (mit der Waffe und manchmal in Kleidern) gegen die Besatzungsmacht. Nur 25 Prozent von ihnen waren in seinen Augen Menschen. Einer von ihnen war der Hauptmann Kurt Werner, der ihm mit falschen Papieren und echten Kontakten half. So landete Sylvin als Zwangsarbeiter in Berlin, wo er Hunger, Folter und Typhus überlebte.
Seine Wohnungen in St. Pauli – zunächst in der Detlev-Bremer-Straße 24, dann in der Wohlwillstraße 12 – waren Asyle für Verfolgte aus allen Ländern. Er lebte mit seinen Erinnerungen und Traumata, mit Schuld- und Rachegefühlen. Nur mühsam gelang es ihm nach dem Krieg, nicht nach Lemberg/Lwiw abgeschoben zu werden. Für ihn war der Krieg niemals vorbei. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf.
Links und Literaturangaben:
Kuno Kruse, Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein, Köln 2000 (Verlag Kiepenheuer und Witsch, Taschenbuchausgabe 2003)
Film:
Er tanzte das Leben, Regie: Kuno Kruse und Marian Czura, D 2004
*Illustration: Eva Müller
*Bildquelle : Ebru Durupinar Photography / Gedenktafel Wohlwillstraße 12
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