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KIRSTEN NILSSON - KARL ERICH BÖTTCHER / 1931-2017


Kirsten Nilsson wurde als Karl Erich Böttcher am 25. März 1931 in der Mark Brandenburg geboren und starb am 12. Juli 2017 in München. Nilsson war eine Bühnenkünstlerin und Prostituierte, die sich als transsexuell verstand. Sie verbrachte viele Jahre auf St. Pauli.


Ein Koberer schnackt Kundschaft ins „King Kong“ – gemeint ist das „Salambo“. Katharina ist Natascha – einer der Bühnennamen von Kirsten Nilsson:


„Hereinspaziert, meine Herren! Hereinspaziert! Hier sehen Sie, was Sie noch nie gesehen haben! […] Original-Geschlechtsverkehr […] Sie kommen gerade recht zum Höhepunkt! Die berühmte Künstlerin Baby Blue aus dem Crazy Horse in Paris in ihrer internationalen Attraktion ‚Katharina und der Große!‘ […] Katharina lag so, daß die Zuschauer direkt zwischen ihre gespreizten Schenkel sehen konnten, auf einer kleinen Bühne, in einem grellen Scheinwerferkegel. […] Sie bewegte das Becken, massierte ihre prallen Brüste und warf den Kopf hin und her […].“


So beschreibt Johannes Mario Simmel einen Besuch in der Großen Freiheit in seinem Bestseller „Der Stoff, aus dem die Träume sind“, erschienen 1971. Ein „mächtiges künstliches Glied“, verborgen in einem „riesigen Pappmachészepter“, hilft der Darstellerin aus der gespielten Geilheit.


In der Wirklichkeit wurde diese Nummer mehrfach wegen „Unsittlichkeit“ vom Wirtschafts- und Ordnungsamt Hamburg-Mitte verboten. Betreiber René Durand führte unzählige Prozesse – das alles beschreibt Kirsten Nilsson, geboren als Karl Erich Böttcher, in ihren Erinnerungen „Vom Hitlerjungen zur Domina. Ein transsexuelles Leben im 20. Jahrhundert“, erschienen im Jahr ihres Todes. Es ist keine leichte Lektüre. Ihr Leben war voller Gewalt, haarsträubender Operationen (22 waren es insgesamt), Sexsucht, Suff und Tabletten, Intrigen und Betrug. Nilsson berichtet von einer glücklichen Kindheit in Küstrin nahe der polnischen Grenze, von Eltern, die beide Mitglieder in Nazi-Organisationen waren. Sie berichtet von der Freude, wenn sie mit der Puppe ihrer Schwester „mit Porzellankopf, Schlafaugen und echten Haaren“ spielen durfte. Dass die Kinder auf der Straße ständig sagten: Karl Erich sieht ja aus wie ein Mädchen! Und dass die Mutter darüber eher erfreut als empört war. Erster großer Schmerz war die Einschulung: Die „schönen langen blonden Locken“ wurden abgeschnitten und sie musste kurze Hosen anziehen „wie ein richtiger Junge“. Und wie ein solcher trug er/sie 1941 als Hitlerjunge die kurze schwarze Hose und das Braunhemd.


Als der Hitlerjunge sich nicht über das Fahrtenmesser freute, das zur Uniform gehörte, verprügelte der Vater ihn mit einem Riemen. Mit der Mutter lebte das Kind im Kino Phantasien aus – UFA-Stars wie Zarah Leander mit ihren großen Roben zogen das Kind magisch an. In einem eigens genähten Kleid als „Kammerkätzchen“ (veraltet für Kammermädchen, weibliche Dienstbotin) half sie im Haushalt. Kriegsbedingt machte sie nie einen Schulabschluss – dafür erlernte sie viele Berufe und übte noch mehr aus. Traumberuf blieb die Schauspielerei. Ab 1947 Ausbildung zum Damenfriseur in Rosenheim. Als „sehr tüchtig und talentiert“ beschreibt sie sich. Sie schminkte sich dezent und freute sich unbändig auf die jährlichen Faschingsbälle, auf denen sie große Roben ausführen konnte. 1951 begann sie eine Ausbildung an der Meisterschule für Mode in München. Die Großstadt ermöglichte so etwas wie ein schwules Coming-out. „Auf die Idee, dass ich gar nicht schwul, sondern transsexuell war, konnte ich damals gar nicht kommen … Woher auch?“ Schon das Schwul-Sein bereitete Angst vor Ächtung und Strafe. Erste Auftritte in Hamburg in der „Bar Celona“ als „Damenimitator“ waren, auch alkoholbedingt, Reinfälle. Sie „professionalierte“ die Rollen, feierte Erfolge. Ab Mitte der 1960er Jahre geschlechtsangleichende Operationen in Marokko. Doch erst spät in ihrem Leben konnte sie sich annehmen.


Sie schliesst ihre Erinnerungen mit dem Fazit:

„Ich hatte geglaubt, mit der großen Operation in Casablanca würden sich alle meine Probleme lösen, aber ich war danach jahrzehntelang ein Opfer der Verstümmelungen, die ich selbst an mir vornehmen ließ. Ich bin transsexuell, meine Seele wurde in einem Körper des anderen Geschlechts geboren. Ich konnte mich nicht annehmen, wie ich war, und flüchtete mich vielleicht deswegen in ein schizophrenes Leben, das von Alkohol, Tabletten und Sexsucht bestimmt war. Erst spät, nach 22 Operationen, unzähligen Reparaturen und Korrekturen, konnte ich mich annehmen, wie ich bin, doch bis heute habe ich nicht das Gefühl, in meinem Körper zu Hause zu sein.“


Zuletzt arbeitete sie als Altenpflegerin in Bayern und spielte in ihrer Freizeit Theater.

Links und Literaturangaben:


Kirsten Nilsson, Vom Hitlerjungen zur Domina – Ein transsexuelles Leben im 20. Jahrhundert, München 2017 (herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Linda Strehl, Forum Homosexualität München e.V.



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