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INGE VIETT / 1944-2022


Geb. am 15. Januar 1944 in Stemwarde (Kreis Stormarn), gest. am 9. Mai 2022 in Falkensee (Brandenburg); Terroristin, Aktivistin, Autorin.


„Schnell zu Geld kommen? Das hieß: St. Pauli. … Zwei Monate strippte ich in Gerds Bar, zusammen mit sechs weiteren Frauen. … Nirgendwo ist das ökonomische Abhängigkeitsverhältnis der Frauen so ungetarnt, das Warenverhältnis in der Geschlechterbeziehung so nackt, die Liebe und Lust so illusionär wie in den Vergnügungsghettos der Städte. … Ich war das Provinzhäschen, die anderen Frauen waren erfahrene Nachtbar-Arbeiterinnen, schon jahrelang im harten Geschäft mit ihrem Körper. Sie behüteten mich, weihten mich ein in die Tricks und Schliche, brachten mir die Kunst des Trinkens ohne zu trinken bei.“

Inge Viett, Nie war ich furchtloser – Autobiographie, Reinbek 1999, S. 65f


Zweimal lebt sie in Hamburg. Unterschiedlicher konnten Welten nicht sein: Erst als Haushaltshilfe in einem Villenhaushalt eines Patriarchs übelster Sorte. Dann lockt die beste Freundin Casimir sie nach Hamburg. Die beiden hatten sich im Frauen-Sub IKA-Stuben kennen gelernt. Die übernächste Station ist Berlin-Kreuzberg. Ein abgeranzter Stadtteil mit Kriegsnarben, in dem alle Strassen an der Mauer enden. Alles ist in Bewegung und Aufbruch, in alten grossen Wohnungen: „eine Kultur, Homo-, Künstlerbohème … alle schwammen im Strom der Zeitthemen: sexuelle Befreiung, kollektive Lebensformen, Verwerfung der autoritären Strukturen.“ Viett ist Suchende und Lernende. Zum Wendepunkt wird eine mehrmonatige Reise nach Nordafrika. Die unmittelbare Erfahrung von Elend und die Erkenntnis, dass die „Eliteländer“ sich hier den Grundstoff ihres Luxus widerrechtlich aneignen, drängt sie zu politischem Engagement. Zwei Genossen werben sie 1972 für die „Bewegung 2. Juni“ an. Der Name bezieht sich auf den gezielten Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Kriminalobermeister Kurras beruft sich vor Gericht erfolgreich auf Notwehr. Dieses Unrecht radikalisiert Teile der Studentenbewegung.


Zunächst schafft die kleine Gruppe von „Stadtguerilleros“, wie sie sich nennen, Geld für den bewaffneten Kampf heran. Dann basteln sie Bomben. Inge Viett beteiligt sich an einem Anschlag auf den britischen Yachtclub in Berlin, eine Antwort auf mörderische englische Polizeigewalt in Nordirland („Bloody Sunday“). Die Bombe ist nicht richtig programmiert, anstatt in der Nacht den leeren Offiziersclub in die Luft zu jagen, tötet sie anderntags den Hausmeister. Mehrfach wird sie verhaftet, mehrfach kann sie fliehen. Sie lebt im Untergrund. Als sich die Bewegung 2. Juni 1980 auflöst, schliesst Viett sich der Roten Armee Fraktion an. Eine Distanz zur RAF wird sie behalten: „Ich fand vieles richtig, aber ich mochte sie (die RAF) nicht.“ Die Zeit in der Bewegung 2. Juni ist geprägt von Entschlossenheit, die alte Gesellschaft zu stürzen und dem Wissen um die gerechte Sache. Und Romantik. Im Tegeler Forst üben sie Schiessen. In Österreich entführt die kleine Gruppe einen Unternehmer und lässt ihn gegen Lösegeld wieder frei. Allgegenwärtig sind Spitzel des Verfassungsschutzes. 1978 befreien sie Häftlinge. Aufenthalte in Prag, Bagdad und im Jemen. 1981 schießt sie in Paris auf einen Polizisten, der sie wegen Moped-Fahren ohne Helm angehalten hatte. Exotisch erscheint ihr Aufenthalt von 1982 bis 1989: durch Kontakte zur DDR-Staatssicherheit lebt sie mit falschem Namen und erfundener Biographie in der DDR. Glückliche Jahre. 1992 wird sie wg. der Schüsse auf den Pariser Polizisten zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie kommt 1997 frei. Die Autobiographie erscheint noch während ihrer Haft. Weitere Bücher folgen. Sie distanziert sich nie von der RAF und von militanten, also gewalttätigen Aktionen. Allerdings sei bewaffneter Kampf politisch nur gerechtfertigt, wenn er „von einem tragfähigen Teil der Bevölkerung für notwendig gehalten“ werde.


Bildquelle: Ruth E. Westerwelle, Berlin. Abb. aus „Die Frauen der APO“


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