Elfriede Lohse-Wächtler wurde am 4. Dezember 1899 als Anna Frieda Wächtler in Dresden geboren und am 31. Juli 1940 in Pirna (Sachsen) ermordet. Lohse-Wächtler gehört zu den bedeutendsten deutschen Künstler:innen des 20. Jahrhunderts. Sie malte und zeichnete auf St. Pauli.
„Wenn ich sehe, was die Menschen treiben / will mein Atem stocken bleiben. […] Wenn mir auch die anderen grollen / ich allein weiß, wer ich bin.“ Lohse-Wächtler, 1932
Ihr kurzes Leben war geprägt von Lebenshunger, Unkonventionalität und einem Willen zu eigenständiger Kunst. Seelische Verletzungen, Einsamkeit und materielle Not rieben sie auf. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die eine reguläre künstlerische Ausbildung absolvieren konnten. Beginnen musste sie auf väterlichen Wunsch ein Studium an der Königlichen Kunstgewerbeschule in Dresden im Fach „Mode und weibliche Handarbeiten“. Ein Jahr später konnte sie zur Angewandten Graphik wechseln. Mutig verweigerte sie sich weiblichen Rollenerwartungen, sie schnitt sich die Zöpfe ab, zog von zu Hause aus, trug ungewöhnliche selbstgeschneiderte Kleidung, tanzte Ausdruckstanz, rauchte Pfeife und Zigaretten und nannte sich ab 1917 Nikolaus Wächtler – daraus wurde „Laus“. Nach dem Ersten Weltkrieg knüpfte sie Verbindungen zu Künstler:innen der Dresdner Sezession.
1921 heiratete sie den Maler und Sänger Kurt Lohse. Das Geld musste sie verdienen, er gab lieber Geld aus. 1923 die erste Trennung. Als er an Tuberkulose erkrankte, pflegte sie ihn.
1926 ging sie nach der zweiten Trennung von Lohse nach Hamburg. Es wurde die produktivste Zeit ihres Lebens, wenngleich sie in ärmlichsten Verhältnissen lebte, die ihre Gesundheit ruinierten. Auf St. Pauli lebte sie in Gesellschaft von Außenseiter:innen, es entstanden Porträts von Prostituierten und anderen gesellschaftlich Verachteten. Bislang hatten sich nur männliche Künstler diesen Themen zugewandt. Ihr Ehemann bekam das erste Kind mit einer anderen Frau; sie selbst hatte sich Kinder gewünscht.
1929 erlitt sie einen Zusammenbruch. Sie verbrachte zwei Monate in der Psychiatrie der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, die Therapie bestand überwiegend aus Bettruhe in einem Krankensaal. Dennoch stabilisierte sie sich etwas. Eine Ausstellung gab ihr neuen Mut. Es folgten Zeiten großer Not und Obdachlosigkeit. Sie vereinsamte. 1931 kehrte sie ins ungeliebte Elternhaus nach Dresden zurück. Ein Jahr später wurde sie auf Betreiben des Vaters in die geschlossene Abteilung der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf eingewiesen. Sie zeichnete und malte weiter. Ihr wurde zeittypisch die Diagnose „Schizophrenie“ zugeordnet.
Kurt Lohse ließ sich „wegen unheilbarer Geisteskrankheit“ von ihr scheiden. Sie war nunmehr ungeschützt. Sie wurde entmündigt. Ende 1935 wurde sie – nach dem 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ – zwangssterilisiert. An Körper und Seele zerstört, versiegte ihre Schaffenskraft. 1933 hatte sie an die Mutter von ihrer Angst geschrieben, in der Anstalt zugrunde zu gehen, wo „nie auch nur ein Mensch ein wirkliches Wort mit mir gesprochen“ habe. Ein Jahr später fragte sie: „Wie ist es möglich, auch mich in eine Lage zu bringen, die auch außer aller Würde steht?“ Wie in der Friedrichsberger Anstalt zeichnete sie ihre Mitpatient:innen, empathisch, eindringlich, ein Blick auf einsame, entrückte Frauengestalten am Un-Ort der Anstalt, ohne jede Rückzugsmöglichkeit.
Am 31. Juli 1940 wurde sie von Arnsdorf nach Sonnenstein bei Pirna verlegt. Die psychiatrische Anstalt am Elbufer war eine von sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich, in denen ab 1940 Ärzte und Schwestern als krank deklarierte Menschen mit Kohlenmonoxid ermordeten. Ein Grab existiert nicht – ebenso wenig wie für die anderen 14.751 dort ermordeten Frauen und Männer.
Links und Literaturangaben:
Dirk Blübaum, Rainer Stamm, Ursula Zeller (Hg.), Elfriede Lohse-Wächtler 1899 – 1940, Tübingen 2008 (Ausstellungskatalog Zeppelin-Museum Friedrichshafen und Paula Modersohn-Becker Museum Bremen)
Boris Böhm, „Ich allein weiß, wer ich bin“ – Elfriede Lohse-Wächtler 1899 – 1940 – ein biographisches Porträt, Pirna 2003 (Ausstellungskatalog des Stadtmuseums Pirna und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/ Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein)
Boris Böhm, Wollen wir leben, Das Leben! Elfriede Lohse-Wächtler 1899 – 1940, Eine Biographie in Bildern, Dresden 2009 (Herausgegeben vom Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V., Sandstein Verlag)
Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft (Hg.), „das oft aufsteigende Gefühl des Verlassenseins“ – Arbeiten der Malerin Elfriede Lohse-Wächtler in den Psychiatrien von Hamburg-Friedrichsberg (1929) und Arnsdorf (1932 – 1940), Dresden 2000 (Verlag der Kunst Dresden)
Georg Reinhardt (Hg.), „Im Malstrom des Lebens versunken....“ Elfriede Lohse-Wächtler, Leben und Werk, Köln 1996 (Wienand Verlag)
* Bildquelle: Ebru Durupinar Photography aus dem Buch "Wollen wir leben, Das Leben!" Elfriede Lohse-Wächtler 1899-1940 Eine Biografie in Bildern
Autor: Boris Böhm
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